Landtagswahl 2024: „Es wird ruppiger“

Was hat das Thema Flüchtlinge mit der Koalition in Sachsen gemacht? Wie verändert die AfD die CDU-Strategie für die Landtagswahl 2024? LVZ-Chefkorrespondent Kai Kollenberg hat Einschätzungen parat.

Flüchtlinge und Grenzkontrollen, AfD-Höhenflug und Extremismuseinstufung: Kai Kollenberg, Chefkorrespondent Landespolitik der LVZ, spricht im Interview über die wichtigsten Themen des Jahres in Sachsen, mögliche Szenarien für die Landtagswahl und die Wahlkampfstrategien der sächsischen Parteien.

Die Flüchtlingspolitik war in diesem Jahr eines der bestimmenden Themen, es wurde um Grenzkontrollen und überlastete Kommunen gestritten. Wie hat das Thema die Landespolitik bestimmt?

Die Flüchtlingszahlen haben dieses Jahr von Anfang an geprägt. Wir hatten erst die Debatte über ausreichend Wohnungskapazitäten für die Geflüchteten. Dann wurde gestritten, ob Grenzkontrollen kommen sollen oder nicht. Der Bund hat sich geweigert, Sachsen war nicht amüsiert. Wir haben gesehen, wie in der ­Koalition um den richtigen Ansatz gerungen wurde. Der Ministerpräsident ­Michael Kretschmer (CDU) hat für sich früh den Ansatz gewählt, die Probleme offensiv anzusprechen. Die kleinen Koalitionspartner SPD und Grüne sind hier ein bisschen vorsichtiger: Sie sehen zwar auch die Probleme, wollen sie aber nicht nur thematisieren, sondern Lösungen in den Vordergrund rücken. Und das werfen sie dem Minister­präsidenten vor: Dass er eben nichts löst, sondern nur die Situation anspricht.

Das heißt aber auch, dass das Einführen von Grenzkontrollen zwar nicht im Sinne der EU ist, aber tatsächlich Veränderungen im Sinne der Sachsen-CDU gebracht hat?

Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) argumentiert zumindest, die Kontrollen hätten dafür gesorgt, dass die Zustände im grenznahen Raum beherrschbarer sind. Schuster hatte vor Verfolgungsjagden mit Schleusern gewarnt. Er hatte die Befürchtung, dass es dadurch zu Verkehrsunfällen mit Toten kommen könnte. Jetzt kann die Bundespolizei nach Schusters Ansicht die Schleuserautos schon an der Grenze aus dem Verkehr fischen. Aber um das klarzustellen: Sachsen weist Flüchtlinge nicht systematisch an den Grenzen ab, der Großteil der Flüchtlinge kommt trotzdem in die Erstaufnahmeeinrichtungen. Schuster hofft aber, dass die Schleuser mitbekommen haben, dass in Deutschland Grenzkontrollen eingeführt wurden.

Und wie kommen die Grenzkontrollen bei den Wählerinnen und Wählern an?

Es ist ein Thema, das die Wähler bewegt. Das hat man auch in der Umfrage gesehen, die wir als LVZ mit den beiden anderen sächsischen Regionalzeitungen, der Sächsischen Zeitung und der Freien Presse, in Auftrag gegeben hatten. Es gibt Demonstrationen, wenn in einer Kommune ein Flüchtlingsheim aufgemacht werden soll. Ich glaube also schon, dass ein Teil der Sächsinnen und Sachsen das Vorgehen begrüßt. Darauf hatten Michael Kretschmer und Minister Schuster vermutlich auch spekuliert.

Welche politischen Ereignisse auf Landesebene waren noch prägend für dieses Jahr?

Es gab, wenn man es so will, einen großen Skandal. Dabei ging es um die Fördermittel im Sozialministerium von Petra Köpping. Der Rechnungshof hat in einem internen Bericht Köpping vorgeworfen, Fördermittel im Bereich der Integration nicht korrekt vergeben zu haben. Es war von korruptionsgefährdenden Strukturen die Rede. Der Staatssekretär musste gehen. Die Ministerin sagt, sie habe aus den Fehlern gelernt. Die Förderrichtlinie wurde angepasst. Aber das Thema wird Köpping vermutlich noch begleiten. Sie ist schließlich SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl. Und gerade die AfD wird das Thema wohl nicht ruhen lassen.

In den vergangenen Wochen gab es große Unruhe bei der EU-Förderung für die Landwirte. Diese Millionen werden nicht wie sonst Ende Dezember ausgezahlt, sondern erst Mitte Februar. Hier sind die Bauern auf die Barrikaden gegangen. Es wurde ungemütlich für Umweltminister Wolfram Günther (Grüne). Obwohl er beteuert, er habe daran keine Schuld. Es läge alles an technischen Problemen. Er hat zwar nun eine Ausgleichzahlung für die Bauern organisiert, die mit Zwischenkrediten den Zeitraum bis Februar überbrücken müssen. Das Thema war in der Koalition aber heikel. Die CDU forderte den Kopf von Günthers Staatssekretärin. Der Streit war so groß, dass die Koalition kurz vor dem Aus stand. Erst als der Ministerpräsident den Rauswurf der Staatssekretärin ausschloss, kehrte ein wenig Ruhe ein.

Ansonsten ist es wie in den vergangenen Jahren: Es gibt viel Streit in der Koalition, viel Klein-Klein. Der Ministerpräsident schießt gegen die Grünen, findet sie öffentlich doof und sagt, er würde am liebsten nicht mehr mit ihnen regieren. Die Koalition schleppt sich ein bisschen dem Ende entgegen.

Ein wichtiges Thema 2023 war die hohe Zustimmung der AfD in den Wahlumfragen. Welche konkreten Auswirkungen hatten die Werte auf die Landespolitik?

Es ist offensichtlich, dass Kretschmer den konservativen Teil der Wählerschaft jetzt anders adressieren will. 2019 hat er noch um die Stimmen derjenigen gebuhlt, die bisher nie CDU gewählt haben, aber die AfD als stärkste Kraft verhindern wollten. Kretschmer wird auch jetzt nicht mit der AfD koalieren, das schließt er aus. Aber dieses Mal versucht er explizit, den konservativen Teil der Sachsen zu gewinnen, die sich gegen die Grünen wenden. Hier macht er deutliche Ansagen, wettert gerne gegen die Ampelregierung in Berlin. Er positioniert sich skeptisch in Asylfragen, gibt den Konservativen. Und natürlich führt das Umfragehoch der AfD dazu, dass wir einen sehr nervösen Wahlkampf sehen werden. Das wird schon im ­Januar beginnen – und es wird wahrscheinlich bis zum Wahltag nicht aufhören. Es geht darum: Wird die AfD die stärkste Kraft? Gibt es eine Mehrheit gegen die AfD? Brauchen wir dann eine Vier-Parteien-Koalition oder reichen nur zwei oder drei? Diese Fragen werden uns das ganze Jahr begleiten.

Kann durch die Zuspitzung im Wahlkampf die Koalition in Sachsen noch vor der Landtagswahl zerbrechen?

Nein. Ich gehe nicht davon aus, dass Michael Kretschmer die Koalition platzen lässt. Alles würde nur komplizierter, wenn man sie jetzt aufkündigt. Aber es wird wahrscheinlich ruppiger werden, ruppiger als jetzt, was die Koalitionsarbeit angeht.

Welchen Einfluss hat die ­Einstufung des sächsischen Landesverbands der AfD als extremistisch durch den ­Verfassungsschutz?

Vermutlich keinen großen. Wir haben es bei der NPD gesehen, die von 2004 an zehn Jahre lang im Landtag saß: In Sachsen gibt es eine Wählerklientel, die sich von radikalen Positionen angesprochen fühlt. Bei der AfD ist es nicht anders: Ein Teil stimmt für die Partei wegen ihrer radikalen Ansichten, der andere Teil trotz. Daran wird die Einstufung nichts ändern.

Gibt es konkrete Szenarien, die für den Wahlkampf in Sachsen vorstellbar sind?

Es deutet sehr viel darauf hin, dass Kretschmer die AfD nicht übermäßig thematisieren wird. Er wird eher einen Wahlkampf gegen die Grünen machen. Denn die Grünen sind beim Großteil der Wählerinnen und Wähler in Sachsen regelrecht verhasst. Die AfD wird einen Wahlkampf machen nach dem Motto: „Ihr könnt es allen zeigen, wenn ihr uns wählt!“ Die AfD will stärkste Kraft werden. Ich wage jetzt keine Prognose – aber die Gefahr oder das Szenario besteht. Entscheidend dafür könnte sein, ob Sahra Wagenknecht mit ihrer neuen Partei in Sachsen wirklich antritt. Sie kann der AfD Prozentpunkte kosten, weil auch sie eine ähnliche Klientel umwirbt. Im Wahljahr wird auch spannend zu sehen sein, womit die Grünen punkten wollen? Denn sie versuchen schon, auch den ländlichen Raum abseits der Großstädte zu umwerben. Vielleicht werden sie ein bisschen konservativer, bürgerlicher auftreten. Die Frage ist, ob das dann verfängt.

Welche Rolle werden die Linke und die neu zu gründende Wagenknecht-Partei zur Landtagswahl spielen?

Wagenknecht hat ja schon angefangen, Kretschmer zu umwerben und ihm Angebote für die Zusammenarbeit zu machen. Und je nachdem, wie stark die Linke als auch Wagenknecht werden, kann es wirklich auf sie ankommen nach der Landtagswahl. Wenn es keine Mehrheit mehr für Schwarz-Grün-Rot gibt und man auf eine vierte Kraft angewiesen ist, dann richtet sich der Blick auf die Linke und auf Wagenknecht. Die CDU wäre dann in einem Dilemma: Sie hat in Sachsen immer gesagt, dass sie mit der Linken nicht koaliert und nicht regiert. Gibt es dann andere Optionen? Kann die Linke eine CDU-geführte Koalition tolerieren? Macht das ansonsten Wagenknecht? Wie soll das überhaupt aussehen?